Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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Forschungswerkstatt und Ringvorlesung 2. Mai 2012

Am 2. Mai 2012 fand in Halle (Saale) die Forschungswerkstatt "Bildung barrierefrei Teilhabe ist möglich" statt. Diese wurde von der Fachrichtung Sprachbehindertenpädagogik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg in Zusammenarbeit mit der Forschungsstelle zur Rehabilitation von Menschen mit kommunikativer Behinderung (FST) organisiert.

Neben Vertretern aus Wissenschaft, beruflicher Praxis und Weiterbildung waren auch die Vizepräsidentin des Deutschen Schwerhörigenbundes, Renate Welter, und der Präsident des Deutschen Gehörlosen-Bundes, Rudolf Sailer, anwesend.

Dipl.-Pädagoge Thomas Groß vom Projekt GINKO (Gesetzeswirkungen bei der beruflichen Integration schwerhöriger, ertaubter und gehörloser Menschen durch Kommunikation und Organisation) zeigte in seinem Vortrag Ergebnisse verschiedener Studien, die belegen, dass sich aus Sicht der Arbeitgeber die Beschäftigungsbedingungen schwerbehinderter Arbeitnehmer insbesondere durch eine Reihe von Gesetzesänderungen verbessern ließen. Günstig für eine Einstellung schwerbehinderter Arbeitnehmer wirken sich eine mit nicht-behinderten Mitarbeitern vergleichbare Leistungsfähigkeit sowie Einsatzmöglichkeiten an einem „passgerechten“ Arbeitsplatz aus.

Dipl.-Kauffrau Sara Schröder (Projekt GINKO) stellte heraus, dass den Schulen für die spätere Berufswahl Hörgeschädigter eine bedeutende Rolle zukommt. Diese klären im Idealfall frühzeitig über gesetzliche Ansprüche, Ansprechpartner und Informationsquellen auf, bieten Hilfen zur beruflichen Orientierung und informieren potentielle Arbeitgeber über das Thema Hörbehinderung. Dies wurde durch die qualitativen Interviews im Rahmen des Projektes GINKO erneut deutlich.

Dipl.-Kulturpädagoge Ronald Prinz vom Projekt ZUK (Zukunftssicherung hörbehinderter Arbeitnehmer in kaufmännischen und technischen Berufen durch berufsfeldübergreifendes Lernen – Einrichtung und Evaluation der Virtuellen Fachschule Bautechnik) stellte berufliche Chancen für von Hörschädigung betroffene Menschen durch die Virtuelle Fachschule am rwb-Essen vor. Diese bietet schwerhörigen und gehörlosen Menschen die Möglichkeit der beruflichen Höherqualifikation. Barrierefreie Lern- und Kommunikationsbedingungen ermöglichen innerhalb der Klassen erfolgreiche Teamarbeit. Das Modell, das auf dem Konzept des Blended-Learning (Präsenzunterricht, Chatunterricht und Selbstlernen) basiert, ist berufsbegleitend ausgelegt. Der erfolgreiche Abschluss (Fachabitur) berechtigt unter anderem zum Hochschulbesuch. Ergebnisse aus der Begleitforschung zeigen, dass einige Absolventen durch den an der Virtuellen Fachschule erworbenen Abschluss höhere Positionen im Beruf erreichen konnten (weitere Informationen unter: www.rwb-essen.de).

Dr. Christfried Rausch (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) veranschaulichte im Rahmen seiner Dissertation „Hörschädigung: Einfluss auf Biografie und Potential für den Bildungsprozess“ anhand zweier Lebensgeschichten, welchen Einfluss das Erleben der jeweiligen Hörschädigung auf die persönliche Identitätsbildung und den individuellen Bildungswerdegang ausübt.

Silke Gräser vom Integrationsfachdienst (IFD) für hörbehinderte Menschen Halle/Merseburg beschrieb erhebliche Barrieren und Grenzen, mit denen sich Hörgeschädigte in der beruflichen Praxis auseinandersetzen müssen. Auf Arbeitgeberseite bestehen oftmals Vorurteile bezüglich der kommunikativen Fähigkeiten hörgeschädigter Menschen. Aufgabe des IFD sei es, diese auszuräumen und die Arbeitgeber über technische und finanzielle Hilfen zur Integration Hörgeschädigter zu beraten. Zu ihrer Klientel gehören neben ratsuchenden Arbeitgebern auch Betriebsräte, erwerbstätige und arbeitssuchende Menschen mit Hörschädigungen und Schüler, die beim Übergang in den Beruf unterstützt werden. Der IFD berät vor allem in Belangen der Kommunikation, rechtlichen Ansprüche, Arbeitssicherheit, Arbeitsplatzausstattung und Arbeitsanforderungen. Silke Gräser kommt zu dem Schluss, dass eine erfolgreiche Integration von hörbehinderten Menschen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt grundsätzlich möglich ist, wenn frühzeitig in der Schulzeit Fachberatungen und Orientierungspraktika zur Berufsfindung angeboten werden.

Der Präsident des Deutschen Gehörlosen-Bundes (DGB) Rudolf Sailer, brachte in seinem Kommentar seine Freude über die gesammelten Analysen der vorgestellten Projekte zum Ausdruck. Der DGB, der im Projekt GINKO eng mit der FST kooperiert, sieht großes Potential in den Ergebnissen und möchte diese über eine spezielle Initiative in die Öffentlichkeit tragen. Auch er nannte kommunikative Hürden als Hauptproblem der beruflichen Teilhabe und beklagte Schwierigkeiten bei der Finanzierung des Einsatzes von Gebärdensprachdolmetschern. Gleichzeitig betonte er den hohen Stellenwert der Gebärdensprache für gehörlose Menschen. Nur mit Gebärdensprache hätten gehörlose Menschen einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung und den damit verbundenen Berufschancen. Er kenne viele Gehörlose, die erfolgreich am Arbeitsleben teilhaben und teilweise auch Leitungspositionen innehaben. Dies weiter zu transportieren, um Ängste und Vorurteile seitens der Arbeitgeber abzubauen und bürokratische Hürden zu minimieren, sei eine wichtige Aufgabe.

Die Vizepräsidentin des Deutschen Schwerhörigenbundes, Renate Welter, griff in ihrem Kommentar noch einmal die Bedenken der Arbeitgeber bezüglich der Einstellung schwerbehinderter Arbeitnehmer auf. Diese sähen sich einem erheblichen bürokratischen, zeitlichen und finanziellen Mehraufwand ausgesetzt und würden daher im Zweifelsfall eher Mitarbeiter ohne Beeinträchtigungen einstellen. Sie plädierte in erster Linie für eine Entbürokratisierung bei der Beantragung der Hilfen, da gerade schwerbehinderte Arbeitnehmer ihre Ressourcen für die Erfüllung ihrer dienstlichen Aufgaben brauchen und damit gleichzeitig eine weitere Hürde für Arbeitgeber zur Einstellung hörgeschädigter Menschen abgebaut wird. Renate Welter sieht großes Potential darin, hörgeschädigten Menschen frühzeitig „normale“ Lebenswege zu ermöglichen, um ihre Einstellungschancen zu verbessern: „Wenn jetzt jemand von einer Regelschule kommt, einen normalen Ausbildungsweg gemacht hat, dann sehen die Arbeitgeber, er kommt nicht von woanders, er hat alles das gelernt, was die anderen auch gelernt haben, den brauche ich gar nicht erst integrieren.“ Um dies zu ermöglichen, seien sowohl psychologische als auch technische Unterstützung hörgeschädigter Kinder von Bedeutung. Renate Welter schloss mit dem Plädoyer, dass die Inklusion hörgeschädigter Menschen Aufgabe der ganzen Gesellschaft sei.

Der Nachmittag stand im Zeichen der beruflichen Rehabilitation und der Teilhabe von Menschen mit Hörschädigung am Arbeitsleben. Petra Winkelmann vom Institut der Deutschen Wirtschaft Köln, Leiterin des Projektes REHADAT, referierte zum Thema „Arbeitsgestaltung für Menschen mit Aktivitäts- und Teilhabestörungen – ein Mittel der beruflichen Rehabilitation und Prävention“ und stellte insbesondere die Leistungen zur beruflichen Teilhabe schwerbehinderter Menschen aus Sicht der in REHADAT gesammelten Daten vor. Sie verwies auf zahlreiche Praxisbeispiele gelungener Integration hörgeschädigter Menschen im Berufsleben, die von Betroffenen und Arbeitgebern in REHADAT abgerufen werden können und erwartet nun aus dem Projekt GINKO weitere Best-Practice-Beispiele für eine Veröffentlichung in REHADAT.

PD Dr. Andreas Weber (Projekt GINKO) sprach im Anschluss zum Thema „Wann gelingt die Teilhabe am Arbeitsleben von Menschen mit Hörschädigungen?“ und stellte dazu neueste Ergebnisse der GINKO-Studie vor. Hierbei standen die technischen Ausstattungsmöglichkeiten der Arbeitsplätze hörgeschädigter Arbeitnehmer im Vordergrund. Die GINKO-Ergebnisse zeigen, dass die in die Gesetze aufgenommenen Leistungen bezogen auf technische Hilfen in vielen Fällen bisher nicht realisiert worden sind.

Allen von Hörschädigung Betroffenen war eine barrierefreie Teilnahme an der Veranstaltung möglich, da eine Gebärdensprachdolmetscherin die Redebeiträge in Deutsche Gebärdensprache (DGS) übersetzte und eine Schriftdolmetscherin für eine an einer Leinwand angezeigte Live-Mitschrift sorgte. Zudem stand den schwerhörigen Teilnehmern eine FM-Anlage (Hörkoffer) zur Verfügung.

Insgesamt wurde die barrierefrei gestaltete Veranstaltung von allen Anwesenden mit und ohne Hörschädigung gut angenommen, was in engagierten Diskussionsbeiträgen zum Veranstaltungsschwerpunkt Teilhabe deutlich wurde. Verbandsvertreter, Führungskräfte der beruflichen Rehabilitation der Deutschen Rentenversicherung Mitteldeutschland und des Ministeriums für Gesundheit und Soziales Sachsen-Anhalt nutzten zusammen mit allen Teilnehmenden die Chance, sich wechselseitig über eigene Erfahrungen und neueste Entwicklungen zu informieren.

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